Februar 2020
Ich sitze in einem kleinen WG Zimmer in Hamburg Wilhelmsburg, einer Insel im geografischen Zentrum der Stadt.
Auf ca 9 Quadratmetern habe ich mich spartanisch in einer Wohngemeinschaft eingerichtet. Ohne Tisch, nur mit einer Klapp-Couch, die mir ein Mitbewohner überlassen hat.
Ich bin 33 Jahre alt, Student im ersten Semester und gerade dabei, mein Vermächtnis zu planen.
Aber zurück zum Anfang
Samstag, den 28. September 2019 (2 Tage vor Beginn des Studiums in Hamburg)
Stuttgart
Meine Kartons sind in einem gemieteten Wagen verstaut. Ich habe den Tag damit verbracht allein die Treppen hoch und runter zu laufen. Es ist noch immer nicht viel, das ich besitze, aber am Ende bitte ich eine Freundin um emotionalen Beistand.
Sie begleitet mich in das leere Zimmer, welches für ca 6 Monate mein zu Hause war.
Wir reden, nehmen die letzten Taschen mit raus, schließen die Tür. Aus
Am nächsten Morgen werde ich mit dem gemieteten Kombi nach Hamburg fahren.
Der Abschied am Abend.
Ich sitze in der WG meiner Schwester als ich angerufen werde. Eine Freundin, die ich seit vielen Jahren kenne kommt noch vorbei. Sie hat ein Geschenk dabei. Ein schwarzes T-Shirt, auf das sie zusammen mit ihrer Mutter eine weiße Brusttasche mit kleinen Herzen genäht hat.
Am nächsten Tag auf der Fahrt nach Hamburg breche in Tränen aus.
Es ist viel, was es zu verarbeiten gibt. Viel, was passiert ist. Ein weiterer aufwühlender Abschnitt, weg von all dem, was war. Hin zu dem was kommen mag, ohne zu wissen, was es ist.
Kurz vor Hamburg nehme ich noch einen Anhalter mit, der mit Gesellschaft leistet und beim Auspacken hilft. Ich bin angekommen in einer weiteren Stadt. Es ist der dritte Umzug allein in diesem Jahr.
Mal sehen, wie lange ich dieses Mal bleiben werde.
Montag, den 30.September 2019
Wir haben unsere Einführungsveranstaltung für das erste Semester Brand Design an der Brand University in Hamburg. Ich lerne meine Kommilitonen kennen und erhalte den ersten Studentenausweis meines Lebens.
Ich weiß nicht, ob man nachvollziehen kann, wieviel mir das in diesem Moment bedeutet.
Aber in meiner Hand liegt nicht einfach nur ein Stück Plastik mit meinem Bild und einer Matrikelnummer.
In meiner Hand liegt eine Zugehörigkeit für die kommenden 3 Jahre, sowie Verbindlichkeit und Struktur. Eine finanzielle Herausforderung, aber auch der vorläufige Abschluss einer 14 Jahre andauernden Angst, sich seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu stellen.
Sich zu befreien von dem kleinen Kind, dass sich dumm fühlte, weil es die in der Schule gefragte Logik nicht mit seinen Gefühlen vereinbaren und erklären konnte.
Das Semester verläuft turbulent. Ich fühle mich schnell wohl, aber nur langsam zurecht. Die Kommilitonen sind offen und entspannt. Es fühlt sich an, als ob ich die Zeit noch einmal zurückdrehen konnte, um den Menschen zu finden, den ich selbst vor vielen Jahren zurückgelassen hatte.
In einem veganen Restaurant direkt auf der Reeperbahn finde ich nach einigen Wochen meinen ersten Job. Das Team nimmt mich schnell als Mitglied in der Familie auf und ich kann einen Besuch nur wärmstens empfehlen.
Ich liebe diesen Laden, aber auch hier werde ich leider nicht lange bleiben.
Wieder im Februar 2020
Seit Beginn des Studiums weiß ich bereits, dass die ganze Rechnung nicht aufgehen kann. Das angesparte Geld, welches ich noch in Stuttgart zusammengearbeitet habe, das Bafög, das Gehalt aus dem Restaurant – alles zusammen wird nicht reichen, um mir das Studium leisten zu können und einen KFW-Studien Kredit bekomme ich nicht, da ich als Ausländer nicht die letzten 3 Jahre in Deutschland gemeldet war.
Immer und immer wieder gehe ich die Zahlen durch und weiß am Ende, dass es nicht reicht. Trotzdem mache ich weiter, da mir kein anderer Weg einfällt. Wenn sich Möglichkeiten ergeben in anderen Jobs noch etwas mehr zu verdienen, ergreife ich sie zaghaft.
Zu groß ist die Unsicherheit, wieviel ich denn jetzt
verdienen und arbeiten darf. Wann wird mir das Bafög gestrichen? Wann verliere
ich den Status als Vollzeit-Studenten?
Gefühlt spielen sich alle Möglichkeiten gegenseitig aus.
Eine 20 Stunden-Woche als Werksstudent heißt zu viel Gehalt für das Bafög und mehr als 20 Stunden heißt Verlust der Studien-Berechtigung.
Ich bin am Ende.
Am Tag vor meiner letzten Präsentation des Semesters telefoniere ich mit meiner Krankenkasse:
Da ich wegen des Bafögs nicht mehr als 450 Euro verdienen darf, bin ich nicht sozialversicherungspflichtig angestellt und als Student über 30 muss ich meine Krankenkasse komplett selbst bezahlen.
Rückwirkend von Oktober 2019 bis Februar 2020.
Genickbruch
Ich laufe durch Hamburg und ein dunkler schwerer Schleier legt sich auf meine Schulter.
Er drückt und drückt, so dass sich meine anfangs noch trotzigen Schultern beugen und ich mitten in Hamburg wieder in Tränen ausbreche. Ich könnte schreien, laufe aber still und schluchzend durch die Straßen, die mich vor wenigen Monaten so herzlich empfangen haben.
In einer Stadt, in der ich mich wohl fühle. Akzeptiert und Willkommen von der Energie und der Menschen, die sich in mein Leben bewegt haben. Von meinem zu Hause.
Ich höre nicht auf zu heulen. Alles fließt aus mir raus. Der Druck, die Prüfungen, die vielen Stunden, die ich nachts in der Uni verbracht habe, weil ich mich dort besser konzentrieren konnte und zudem auch noch immer keinen eigenen Schreibtisch zuhause hatte.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich laufe, aber bevor ich zu Hause ankomme fällt der drückende Schleier langsam von mir ab. Die Tränen werden weniger. Mein Kopf wird klar und in mir reift eine Idee.
Immer dann, wenn ich nach den Regeln gespielt habe, hat es nicht funktioniert.
Ein Trotz wird stark und Energie fließt aus meiner befreiten Seele direkt in meine Gedanken, die mit jedem Schritt spezifischer werden.
Broken Pencils ist eine Geschichte, die sich auf den Weg in eine bestimmte Richtung aufgemacht hat, aber erst an diesem Tag wird mir klar, wohin eigentlich.
Sie hat mich 12 Jahre als Versicherungskaufmann arbeiten lassen. Sie hat mich nach Kolumbien geführt, nach Nicaragua, nach Costa Rica, München, Stuttgart und Hamburg. Sie hat mich durch Zeremonien und Therapien geschickt, nur um am Ende dort anzukommen, wo ich immer hinwollte. Bei dem Menschen, der ich bin. Gesehen, gefühlt und akzeptiert von mir selbst.
Broken Pencils ist nicht meine Geschichte. Broken Pencils ist eine Geschichte von vielen.
Viele unerzählte Leben haben ähnliche Voraussetzungen wie die meinige. Kindheitserinnerungen ziehen einen roten Faden durch das Erwachsenenleben.
Erinnerungen, die nur noch in den einzelnen Zellen verankert sind und nur mit viel Liebe, Geduld und professioneller Hilfe zum Vorschein kommen.
Oder auch nicht.
Und das würde ich gerne ändern.
Zumindest für eine Hand voll Menschen.
Ich habe Broken Pencils Artwork als Marke angemeldet ohne zu wissen, was ich damit anfangen soll. Die 290 Euro für die Gebühr war das letzte Geld, das ich vor etwas mehr als einem Jahr noch auf dem Konto hatte.
Jetzt macht alles einen Sinn. Broken Pencils Artwork wird ein Label, welches für schwere Wege, Sackgassen und Umdenken steht. Zu einem Inbegriff von Diversität und Seelenheil. Für Inspiration und einem inneren Stolz. Bereits vor der letzten Prüfung waren die ersten Weichen gemeinsam mit einem Kommilitonen gestellt worden.
Ich halte meine letzte Präsentation und fahre im Anschluss für ein paar Tage zu meinen Eltern in die Berge.
Ich brauche Abstand, muss runterkommen und vor allem eines: Nachdenken.
Vielen Dank
David
Ausblick auf Kapitel 15: Corona schiebt alles, was geplant war in neue Richtungen.